(aus: graswurzelrevolution #283 vom November
2003) Die Welt verändern, ohne die Macht zu erobern! John Holloway, Politikwissenschaftler an der Universidad
Autónoma de Puebla, México und einer der bekanntesten Analytiker des
zapatistischen Aufstandes, brachte im Verlag Westfälisches Dampfboot 2002
sein vielbeachtetes Buch mit dem Titel „Die Welt verändern, ohne die Macht zu
erobern“ heraus. Über neue Wege revolutionärer Politik sprach mit ihm der graswurzelrevolution-Autor
Edo Schmidt. John,
Du warst innerhalb eines Jahres zweimal als Diskutant auf Podien in der
Bundesrepublik: zum einen bei der BUKO im vergangenen Jahr, zum anderen
gerade erst bei der attac-Sommerakademie. Dies ist ein Beleg dafür, daß Du
mit Deinem Buch "Die Welt verändern, ohne die Macht zu erobern" bei
linken Akademikerinnen und Akademikern in der Bundesrepublik offene Türen
einrennst. Und wenn Du sprichst, dauert es nicht lange, bis der Saal kocht -
ganz überwiegend vor Begeisterung! Liegt das daran, daß in dem
entpolitisierten Raum der Wissenschaft endlich wieder jemand begonnen hat,
von "Revolution" zu sprechen, also eine Perspektive für Veränderung
zu formulieren? Und was verstehst Du unter "Revolution"? J.H.: Als das Buch im letzten Jahr erschien,
wußte ich nicht, wie die Reaktion darauf sein würde. Vielleicht habe ich mehr
in akademischen Kategorien als in politischen gedacht. Was würden die Adorno-
und Foucault-Expertinnen und Experten darüber sagen? Wie würden die Leute auf
die Interpretation der Wertform reagieren? Aber die wirkliche Überraschung
kam, als ich im vergangenen Oktober nach Argentinien reiste, um dort die
spanischsprachige Ausgabe vorzustellen. Es waren sehr viele Leute auf den
Buchvorstellungen, die dort einen gewaltigen Diskussionsbedarf äußerten. Ich
spürte unter vielen Altlinken eine gewisse Feindseligkeit (aber nicht
durchgängig, denn ebensoviele räumten ein, daß sie sich in einer Krise
befänden, und daß über neue Wege zu diskutieren sei, die vorwärts weisen),
unter den jüngeren aber einen sehr weitverbreiteten Enthusiasmus,
insbesondere bei jenen, die in den Stadtteilversammlungen und in der Bewegung
der Piqueteros* engagiert sind. In
Mexiko hatte ich sehr ähnliche Reaktionen, allerdings von geringerer
Intensität, da die Situation hier eine andere ist. In Deutschland konnte ich
überhaupt nicht einschätzen, wie die Reaktion sein würde, aber letztes Jahr
auf der BUKO und dieses Jahr bei der attac-Sommerakademie war es wundervoll. Ich denke, daß
es tatsächlich bedeutet, daß die Leute wieder über Revolution reden wollen.
Sie mögen dabei vielleicht nicht das Wort „Revolution“ benutzen, aber beinahe
jeder ist sich bewußt, daß der Kapitalismus ein Desaster ist, das die
Menschlichkeit bzw. die Menschheit**
zerstört, und daß es droht, dies vollständig zu tun. Mehr und mehr Menschen
kämpfen für eine andere Welt, und nichts anderes meint Revolution. Nun ist das
Problem, was wir mit Revolution meinen. Offensichtlich bedeutet es, eine
andere Gesellschaft anstelle des Kapitalismus zu schaffen, aber ich denke,
daß es wichtig ist zu sagen, daß wir nicht wissen, wie wir das erreichen
können. Sicher haben wir viele Kämpfe, die bereits eine Richtung angeben, und
viele Kämpfe zeigen uns, welchen Weg wir nicht gehen sollten, aber Revolution
kann nur gedacht werden als ein Herausfinden, als eine Frage. Mehr und mehr
bin ich davon überzeugt, daß das Problem nicht darin liegt, den Kapitalismus
zu zerstören, sondern vielmehr darin, aufzuhören, ihn ständig selbst
hervorzubringen. Mit dem
Titel Deines Buches gibst Du einen weiteren Hinweis: Es geht Dir nicht um die
Macht, zu regieren, also um Parlamentarismus, sondern darum, daß „wir“ uns
auf den Weg machen, uns selbst zu organisieren, um unsere eigene Macht zu
entdecken. Du verwendest hierbei den einschließenden Begriff „wir“, was mir
sehr gefällt. Geht es bei dem „Herausfinden“ auch darum, ein starkes „wir“
(wieder) zu finden? Und kann dies der Begriff der „Multitude“ leisten, wie
Hardt/Negri ihr „revolutionäres Subjekt“ umschreiben? J.H.: Ja, ich beginne mit einem „Wir“, denn
ich finde es schwierig, mit etwas anderem zu beginnen. Mit einem „sie“
anzufangen, wie auch immer dieses „sie“ definiert ist – ob als
„Arbeiterklasse“ oder als was auch immer -, bedeutet bereits unsere
Distanzierung von der Frage nach der Veränderung der Welt. Das „Wir“ ist die
zentrale Kategorie, da das Problem die Veränderung der Welt ist, und das
verlangt subjektives Handeln, und schließlich sind Wir das kollektive
Subjekt. Aber von einem „Wir“ zu sprechen, wirft eine offene Frage auf. Wer
sind Wir? Wir sind die Arbeiterklasse, aber das ist keine Antwort, nur eine
Weiterentwicklung der Frage. Was heißt es, von der Arbeiterklasse als Subjekt
statt als Objekt zu reden? Nur Objekte können definiert werden, keine
Subjekte. Ein Subjekt ist notwendigerweise eine offene Frage, ein Aufbegehren
gegen Verdinglichung, ein Aufbegehren gegen Definition. Revolution ist keine
Antwort auf die Frage, aber es ist eine Artikulation der Frage, eine
explizite Artikulation eines Wir: wie in Arbeiterräten. Von Subjekten zu reden heißt vom Tun zu reden: Subjekte tun. Deshalb
ist das Konzept der Arbeiterklasse so wichtig: weil es die Art und Weise ins
Zentrum stellt, wie Tun im Kapitalismus organisiert wird, die Art und Weise,
wie Kapitalismus das Tun in entfremdete Arbeit verwandelt. Das Konzept der
Arbeiterklasse verdeutlicht auch die Abhängigkeit des Kapitals von uns, weil
die Existenz des Kapitals von der Entfremdung und Ausbeutung unseres Tuns
abhängt. Das ist wichtig, weil das Verständnis darüber, daß die Herrschenden
von den Beherrschten abhängig sind, der Anfangspunkt für die Befähigung ist,
über Revolution zu sprechen. All das geht in dem Konzept der „Multitude“
verloren, welches nichts über das Tun und nichts über die Abhängigkeit des
Kapitals von uns aussagt. Du
wurdest bei der attac-Sommerakademie als Marxismus-Forscher vorgestellt, aber
die Frage, ob Du Dich als Anarchist oder als Kommunist bezeichnen würdest,
verbietet sich aufgrund Deiner Statements zum Thema Identität. Bei Deinen
„Auftritten“ fiel der Begriff der „anti-identitären Politik“ - oder auch der
der „Anti-Politik“. Du schreibst, revolutionäres Handeln solle nicht mehr auf
Organisationen orientieren, sondern in einer Reihe von Ereignissen
stattfinden bzw. entstehen, wie z.B. bei den Anti-WTO-Protesten 1999 in
Seattle oder derzeit in Cancún/México. Wieso? J.H.: Ja, Du hast recht, ich würde es
vorziehen, mich nicht selbst zu etikettieren. Es gibt eine schreckliche
Tradition der Linken, Menschen zu etikettieren, damit man ihnen nicht zuhören
muß, oder um ihre Argumente einfach abtun zu können. Ich denke, wir müssen
mit diesen Gewohnheiten brechen. Mit “Anti-Politik” meine ich
eine Art von Politik, von Praxis, die nicht an die Strukturen des Staates
anknüpft oder sich an diese anpaßt. Das Ziel von Revolution sollte bereits in
unseren Aktions- und Organisationsformen enthalten sein. Das Kapital versucht
beständig, uns auf sein Terrain zu ziehen, um uns zu zwingen, es auf eine
Weise in Anspruch zu nehmen, die es selbst festlegt. Unser Kampf besteht
immer darin, die Kämpfe auf unser eigenes Terrain zu drücken, um in eine
andere Dimension vorzudringen. Ein wichtiger Aspekt ist
diesbezüglich die Frage der Identität. Das Kapital beschäftigt sich mit
Identitäten, mit Definitionen. Wenn es ihm gelingt, einen Kampf zu
definieren, so hat es wenig Mühe, ihn auch zu gewinnen. Uns selbst zu
definieren bedeutet also, unsere Kämpfe bereits auf ein Terrain zu stellen,
das leicht in die Reproduktion des Kapitals eingegliedert werden kann. Somit
hat das Kapital wenig Probleme mit Kämpfen von Schwarzen oder Frauen oder
Schwulen, solange diese Kämpfe in der Behauptung einer Identität verbleiben.
Was für das Kapital Probleme verursacht, sind die Kämpfe, die nicht in einer
Definition eingedämmt werden können. Schau’ Dir zum Beispiel die
Zapatistas an. Von Anfang an hat die mexikanische Regierung versucht, mit
ihrem Kampf so fertigzuwerden, indem sie ihn als indigenen Kampf oder als
chiapanekischen Konflikt hinstellte. Ein wichtiger Teil des zapatistischen
Kampfes bestand darin, solche Definitionen zu unterlaufen bzw. zu überfliegen,
indem sie sagten: „Ja, wir sind indigen, aber wir sind mehr als das, unser
Kampf ist für die Menschheit bzw. Menschlichkeit.“ Konsequenterweise haben
sie nicht nach unserer Solidarität gefragt, stattdessen forderten sie
uns auf, ebenfalls den selben Kampf aufzunehmen, so, wie wir es vermögen. Es
ist dieser undefinierte Kampf, mit dem das Kapital nicht umgehen kann, weil
es ihn nicht integrieren kann, es kann noch nicht einmal vorgeben, seine
Forderungen zu erfüllen. Wenn ich sage, daß wir
vielleicht überlegen sollten, nicht auf Organisationen beschränkt zu kämpfen,
sondern an Ereignissen orientiert, so meine ich nicht, daß organisieren nicht
wichtig wäre. Offensichtlich könnten diese Ereignisse ohne Organisation gar
nicht stattfinden, ebenso wie jede gute Party Organisation benötigt. Aber die
Organisation ist nicht der Zweck des Ereignisses. Im besten Fall eröffnen
diese Ereignisse (wie Seattle, wie Cancún, aber auch wie 1968 oder der
zapatistische Aufstand vom 1. Januar 1994) eine neue Welt und versetzen uns
in eine neue Dimension. Sie brechen die Zeit, sie brechen Kontinuitäten, sie
versetzen uns in die Lage, in neuen Bahnen zu denken, sie zeigen uns einen
neuen Sinn unserer Möglichkeiten. Und ich denke, der einzige Weg, über
Revolution nachzudenken, ist auf eine Weise, die Zeit bricht, die Kontinuität
bricht - vor allem die Kontinuität unserer Unterordnung unter das Kapital. John, ich
danke Dir für das Gespräch und für die vielen Anregungen! Anmerkungen: * Die Piqueteros in Argentinien sind
Arbeitslose, die seit Jahren mit einer gewissen Militanz auf ihre Situation
aufmerksam machen, indem sie z.B. Straßenblockaden („piquetes“) auf
Straßenkreuzungen errichten – sie haben ja keine Betriebe, die sie bestreiken
könnten. Dadurch, daß sie sich kaum durch staatliche Repression beeindrucken
ließen, leisteten sie entscheidende Vorarbeit für den legendären
Dezemberstreik 2001, als innerhalb von wenigen Wochen mehrere
Ministerpräsidenten nacheinander „aus dem Amt gestreikt“ wurden. Auf den
Stadtteilversammlungen („assambleas barriales“) versuchen viele
Argentinierinnen und Argentinier, ihren Protest zu koordinieren und ihr Leben
während der größten Wirtschaftskrise, die das Land je traf, selbst zu
organisieren. Dabei geht es durchaus auch um den Entwurf eines alternativen
Gesellschaftsmodells. ** Das englische Wort “humanity” bedeutet sowohl
Menschlichkeit als auch Menschheit. -> Startseite Gruppe
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